von Michelle Standley, Studiofotos von Ériver Hijano // 5. September 2017
Ein paar Stunden nach unserem offiziellen Atelierbesuch kehrte ich in die Sanderstraße zurück. Das ist die Straße in Neukölln, in der sich das Atelier der Künstlerin und Performerin Juwelia Soraya, die Galerie St. St., befindet. Ich wollte ein paar Fotos machen und mir die Nachbarschaft ein wenig ansehen. Teure Boutiquen und Kneipen mit Speisekarten auf Englisch und Deutsch, die sich an Expats und Touristen richten; Karten- und Glücksspielräume, die sich an die einheimischen türkisch-deutschen Männer richten; Second-Hand-Läden, manche kuratiert, manche heruntergekommen; ein Puppentheater; und ein Studio für Laser-Haarentfernung wetteifern um die Aufmerksamkeit von Passanten und montierten Überwachungskameras. Spuren des alten Berlins verschwinden langsam angesichts des Neuen.
Am Ende meines Spaziergangs beschloss ich, ein paar Bilder von der grell bemalten und dekorierten Ladenfront der Galerie St. St. zu schießen, als Juwelia höchstpersönlich herauskam, mit einer etwas verfilzten roten Perücke, die ihre breiten Schultern streifte, und einem blauen Spitzennegligé, das ihre langen Schenkel streifte. Sowohl die Perücke als auch das Negligé hatten vielleicht schon bessere Tage gesehen, aber nie eine lebhaftere oder verspieltere Trägerin.
„Ich habe gerade ein paar Pompons an mein Kleid gemacht, Cherie“, sagte Juwelia mit einem koketten Grinsen und deutete auf ein paar rote, orange, grüne und gelbe Pompons, die ihr Negligé rauf und runter liefen. „Sollen wir welche an deine Tasche machen?! Komm rein. Lass es uns tun.“ Doch anstatt meine Tasche zu verzieren, führte sie mich ein paar Minuten später durch die Straße („Oh, sie sind gerade erst eingezogen. Ich weiß nicht mal, was sie verkaufen. Das wird keinen Monat mehr halten.“ Oder „Oh, ich könnte dort nie einkaufen. Es ist zu teuer! Alles in allem zu viel.“ Oder „Alle alten Bewohner sind entweder tot oder sterben.“) Wir standen vor der Tür und tauschten Geschichten über die Welle der Gentrifizierung aus, die unsere jeweiligen Städte, New York und Berlin, im letzten Jahrzehnt oder so erfasst hat.
Früher am Morgen sah Juwelia ganz anders aus, ohne Perücke oder Kleid begrüßte sie mich in einem kurzärmeligen Hemd mit Knöpfen, Strohhut, Turnschuhen und geschmackvoll minimalistischem Make-up. Obwohl ihr Aussehen vielleicht gewöhnlicher und in einigen Details maskuliner war, entsprach ihr Auftreten dem, das sie auch bei ihren Auftritten an den Tag legt: charmant, sympathisch und liebenswert offenherzig. Nachdem wir ein paar Minuten geplaudert hatten, sprang sie auf und bot mir Wasser und ein Rum-Cola-Getränk aus einer Dose an, das allerdings in Champagnergläsern serviert wurde, was sie auch bei ihren Kabarettshows tut, die seit ihrer Eröffnung im Jahr 2006 jeden Freitag- und Samstagabend in der Galerie St. St. stattfinden.
Wir saßen nebeneinander auf einem etwas durchgelegenen, aber sehr bequemen Sofa mit Samtbezug, nippten an unseren Drinks und unterhielten uns über ihre Kindheit, darüber, was sie nach Berlin gebracht hatte, und darüber, wie sie sich in ihrem Leben und ihrer Arbeit stets Etiketten und Kategorisierungen entzogen hatte, eine Form des Spiels, die über die Oberfläche hinausgeht und einfache Gegensätze und Konventionsregeln untergräbt.
Fast jede Ecke der Galerie St. St. zeugt von Juwelias einzigartiger Stimme und ihrer Vision der Welt als verzaubertem Spielplatz, geschmückt mit Rosen, Pudeln, Kuchen und zeitlosen, langbeinigen Lounge-Sängern mit wallenden Locken, die Juwelia selbst verblüffend ähnlich sehen. Diese Leitmotive bevölkern die Gemälde, Skulpturen und Keramiken, die die Wände säumen, und spiegeln sich im Dekor wider: Chaiselongues und gepolsterte Stühle aus Secondhand-Satin und Samt aus der Mitte des Jahrhunderts; gerüschte Satinvorhänge in Pfirsich, Lila und Blau, durchsetzt mit goldenen Quasten, Federboas und Girlanden; Wände, die blutrot oder ozeanblau gestrichen sind; und Böden, die mit wirbelnden, goldenen Schnörkeln bedeckt sind. Die leicht kitschige, aber dennoch gemütliche Atmosphäre erinnert an ein Bordell. Die kleine Bühne und das Klavier im Hinterzimmer erinnern an ein Untergrund-Kabarett. Alles zeugt von einer Freude an der Oberfläche und am Sinnlichen und Sexuellen.
Doch wer nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, entdeckt, dass hinter jeder pastellfarbenen Rose und jedem mit Zuckerguss überzogenen Kuchen oder jedem sentimentalen Lied über Liebe und Glamour eine Weltmüdigkeit, wenn nicht gar Dunkelheit lauert, die die Gartenparty zu sprengen droht. Geschlachtete Schweine und Fleischermesser, Hakenkreuze und Polizisten tauchen unerwartet in den Ecken ihrer Gemälde von intimen Schlafzimmerszenen, schwülen Lounges, windgepeitschten Stränden und Cocktailpartys auf. Lieder über verwaiste Rattenbabys und überforderte Berliner, die das Englisch, das sie jetzt umgibt, nicht verstehen, tauchen zwischen sentimentalen Liebesliedern und Chansons aus den 1920er und 1930er Jahren auf.
Als ich Juwelia fragte, was sie zu diesen Anspielungen inspirierte, tat sie sie mit einer Handbewegung ab und sagte, sie wisse es nicht. Sie seien ihr einfach in den Sinn gekommen. Doch schon nach wenigen Minuten unseres Gesprächs, als wir über ihre Vergangenheit sprachen, wurde klarer, dass diese Schattenseite ihren Ursprung in Kornbach hat, der kleinen Stadt in Westdeutschland, in der Juwelia zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte. 1963 als Stefan Stricker (das „St.“ in „Galerie St. St.“) geboren, lebte Juwelia immer irgendwo außerhalb der Randzone des Mainstreams. Sie malte lieber Ponys auf ihre Vorhänge oder experimentierte mit dem Lippenstift ihrer Mutter, als sich mit ihren Schulaufgaben zu beschäftigen. Ihr Verhalten verwirrte ihre Eltern – eher pragmatische und konventionelle Typen –, die mit Zahlen arbeiteten: ihre Mutter war Buchhalterin für eine Privatfirma und ihr Vater in der Steuerabteilung des Staates. Doch um ihnen zu gefallen, versuchte sie sich nach der High School in verschiedenen Berufen: Bürokauffrau, Grafikdesignerin und Friseurin. Aber nichts schien ihr zu liegen. Ihre Eltern dachten, sie sei vielleicht psychisch krank und als sie 22 Jahre alt war, beschlossen sie, sie zur Untersuchung und Behandlung in eine psychiatrische Klinik zu schicken. Juwelia hatte andere Pläne. Anstatt in den Zug ins Krankenhaus zu steigen, bestieg sie einen nach Westberlin.
Das war 1985, als West-Berlin, eine Insel mitten in Ostdeutschland, eine Art „Wilder Westen“ war und Zufluchtsort für Anarchisten und Außenseiter, die zwar nicht vor dem Militärdienst, aber doch vor den Zwängen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft flohen. Juwelia fand in West-Berlin ein einladendes Zuhause, wo Menschen wie sie der Welt nicht nur entfliehen, sondern sie auch neu erfinden konnten. Und genau das tut sie seit fast drei Jahrzehnten: Sie erschafft die Welt Leinwand für Leinwand und Lied für Lied neu, innerhalb der schützenden Mauern ihrer Vorstellungskraft und innerhalb der Enklave, die heute „Kreuz-Kölln“ heißt.
Abgesehen von einem Job als eine Art Sängerin/Stripperin in einer Lounge außerhalb von Las Vegas ist Kreuz-Kölln der Ort, den Juwelia seit ihrer Ankunft bewohnt hat. Schon früh fand sie eine Wohnung, einen zukünftigen Partner und eine Nische als „transvestitische“ Sängerin und Tänzerin, die an obskuren Orten und verlassenen Wohnungen auftrat. Wenn sie nicht sang oder tanzte oder damit beschäftigt war, ihre eigenen Ensembles zu nähen, malte sie auch in großem Format auf Leinwänden in ihrer Wohnung. Irgendwann wechselte sie jedoch zu überwiegend kleineren und mittelgroßen Werken, bei denen sie Acryl auf Papier verwendete, das sie dann auf Karton montierte und mit einer Schicht Lack überzog, wodurch es einen leicht perlmuttartigen Glanz erhielt. Sie experimentierte auch mit Malerei auf Holz, das sie in Formen schnitt, die zu ihrem Motiv passten, und bis vor einigen Jahren schuf sie auch kleinformatige Werke aus Ton.
Juwelia lebt zwar immer noch in derselben Welt, aber was sich in letzter Zeit geändert hat, ist, dass die Außenwelt zu Juwelia gekommen ist. In den letzten zwei Jahren hatte sie eine Ausstellung in der Jack Hanley Gallery in der Lower East Side in New York; ein Katalog ihrer Arbeiten, „Paintings“, wurde von Peradam veröffentlicht; und nun erscheint ein Dokumentarfilm, in dem sie eine wichtige Rolle spielt: „Überleben in Neukölln“ unter der Regie von Rosa von Praunheim.
Doch selbst in den sonnigsten Gefilden kann die Dunkelheit manchmal ihr Haupt erheben. Inmitten dieser Momente der Erkenntnis musste Juwelia sich auch mit dem Selbstmord ihrer Mutter, dem Tod eines engen Freundes, einem Erbschaftsstreit mit ihrer Schwester und einer kürzlichen Mieterhöhung für ihr Atelier auseinandersetzen. Betrachtet man ihre jüngsten Arbeiten – fast alle zeigen eine ruhende Figur in einer natürlichen Umgebung, inmitten eines Gartens oder neben einem See oder einem von Bäumen gesäumten Weg –, erkennt man, dass für Juwelia das Malen nicht nur eine Katharsis, sondern auch eine Art sicherer Hafen ist, ein Rückzug in eine andere Welt: ein sicherer, schönerer, magischerer Ort, unberührt von den Schmerzen der Veränderung und Unsicherheit.
Bevor ich wieder auf mein Fahrrad stieg, machte ich noch ein letztes Foto von der Sanderstraße. Es war ein auf dem Bürgersteig zerknüllter Flyer, der Gesetze für bessere Mietpreiskontrollen forderte. Als ich um die Ecke zurück in die belebte Hermannstraße bog, flüsterte ich ein stilles Gebet für die Seele Berlins: „Lang lebe die Galerie St. St. Lang lebe Juwelia Soraya. Mögen beide für immer weiterbestehen.“
Künstlerinfo
www.jackhanley.com
